Fremdsprachen

Die Rolle des Fremdsprachenunterrichts in der Waldorfpädagogik

Wie alle anderen Fächer der Waldorfschule soll auch der Fremdsprachenunterricht zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen beitragen. Indem neue Wege erschlossen werden, die Welt wahrzunehmen und zu empfinden, setzt das Erlernen neuer Sprachen einen Verwandlungs- und Entwicklungsprozess in Gang, der die eigene Sinnstiftung und Identität bereichert. Die große pädagogische Bedeutung, die Steiner diesem Unterricht beigemessen hat, kommt in seiner Forderung zum Ausdruck, dass ab der 1. Klasse zwei fremde Sprachen mit insgesamt sechs Wochenstunden unterrichtet werden sollten. Gleichzeitig verweist Steiner darauf, dass dieser Unterricht in seiner Zielsetzung über die praktische Sprachbeherrschung weit hinausgeht und dass eine wesentliche Dimension des Menschseins erst durch das Fremdsprachenlernen erschlossen werden kann.

Hieraus ergibt sich, dass es zu den Zielen des Erlernens zweier oder mehrerer Fremdsprachen an einer Waldorfschule gehört, eine positive Haltung gegenüber Menschen anderer Kulturen zu unterstützen und durch die Fähigkeit, die Weltsicht eines anderen Menschen nachempfinden zu können, Verständnis zwischen den Menschen zu fördern. Indem die Schüler lernen Fremdsprachen zu verstehen und zu sprechen und mit Aspekten der Geschichte, der Literatur und des Zeitgeschehens einer anderen Kultur vertraut gemacht werden, wird ihnen die Möglichkeit eröffnet eine Vielfalt sozialer und kultureller Kompetenzen zu entwickeln. Diese Kompetenzen beruhen auf der Fähigkeit, den Anderen wahrzunehmen und wertzuschätzen, während wir gleichzeitig unsere eigene Identität und „Stimme“ finden.

Das Erlernen von Fremdsprachen eröffnet den Heranwachsenden dementsprechend neue Perspektiven auch im Hinblick auf ihre eigene Sprache, Kultur, Mentalität und Einstellung. Das hilft ihnen die Welt auf umfassendere und differenziertere Weise wahrzunehmen und schafft einen breiteren Rahmen für das Gespräch. Es entstehen neue Möglichkeiten, Gedanken zu strukturieren und darzustellen, so dass die Lernenden befähigt werden, ihr Wissen und ihre Selbsterkenntnis zu vertiefen, ihren Horizont zu erweitern und mehr Möglichkeiten zu finden sich selbst zum Ausdruck zu bringen.

Die Unterrichtsmethoden basieren auf einem ganzheitlichen Verständnis der menschlichen Entwicklung. Die Fremdsprache wird wie die Muttersprache in einem reichen sprachlichen Umfeld voller Aktion und Interaktion erworben, wobei die Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Interessen und Erfahrungen der jeweiligen Altersstufe gelenkt wird. Charakteristisch für den Erstspracherwerb ist auch, dass er immer in einem Kontext stattfindet und durch nicht-semantische Kommunikationsprozesse gestützt wird. Dazu gehören Gestik, Körpersprache, Mimik, Tonfall und die sog. kinesic interaction, sprachspezifische Bewegungen und körperliche Reaktionen, die sich – oft unmerklich – zwischen Sprecher und Hörer abspielen. Diese Kommunikationsprozesse begleiten auch alles spätere Sprachenlernen im Schulalter.

Hatte die Begegnung mit der Fremdsprache in der Unterstufe mit traditionellen Kinderreimen, Liedern und Gedichten begonnen, fortgeführt in der Mittelstufe durch die Lektüre von Märchen, Volkssagen und Geschichten, so bringt die Oberstufe nun die Begegnung mit den Klassikern, mit zeitgenössischer Literatur und vielfältig anregenden Sachtexten. Dadurch ergibt sich eine „primäre“ Erfahrung der ästhetischen und kulturellen Dimensionen der jeweiligen Fremdsprache. Jeder Schüler soll die Möglichkeit haben, auf seine Weise aktiv und aus eigener Motivation heraus zu einer solchen Erfahrung zu kommen. Hieraus können solche individuellen und sinnstiftenden Entwicklungs- und Verwandlungsprozesse entstehen, die mit Humboldt als „Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht“ bezeichnet werden können.

E. Dahl, P. Lutzker, M. Rawson